Königstein (as) – Es sind nur die Älteren, die sich noch an das Realgymnasium Königstein am Klärchenweg oberhalb des Kurbads erinnern. Heute zeugt die von früheren Schülern gestiftete Bronzestatue von Dr. Ernst Majer-Leonhard, dem Schulleiter von 1946 bis 1957, von dieser 1918 bezogenen Bildungsstätte, zunächst ein „Lyceum“ bis zur Obertertia und nach dem Krieg als städtisches Realgymnasium der Vorgänger des im Jahr 1962 eröffneten Taunusgymnasiums.
Der erste Jahrgang, der nach dem Zweiten Weltkrieg im Januar 1946 mit der fünften Klasse – damals „Sexta“ genannt – in diese Schule kam und deren Mitglieder heute 89 oder 90 Jahre alt sind, lebt eine ganz besonders enge Verbindung, weit über die Schulzeit hinaus. Kürzlich kam der Abiturjahrgang des Jahres 1955, stolze 70 Jahre nach dem Abschluss, im Schlosshotel des Rettershofs wieder zu seinem jährlichen Treffen zusammen. Es sei in all den Jahren nie ausgefallen, sagte Organisator Horst Ballmann, der heute mit seiner Frau Heide in Oberems lebt. „Von den 28, die damals Abitur gemacht haben, leben noch neun, leider fehlen heute drei“, so Ballmann, der selbst in drei Monaten nullt. Sechs Klassenkameraden mit Ehefrauen erwartete er an diesem sonnigen Spätnachmittag zum gemütlichen Plausch über alte und aktuelle Zeiten beim 3-Gänge-Menü in einem stilvoll wie gemütlich eingerichteten Nebenraum des Hotels.
Ja, es gab damals auch einige Mädchen im Abi-Jahrgang, die aber alle nicht mehr leben. Als letzte verstarb im vergangenen Jahr Luise Brandt. Dafür sind seit einigen Jahren schon die Partnerinnen dabei, die den naturbedingt leider kleiner werdenden Kreis auffüllen und ganz gewiss zur guten Stimmung beitragen. „Nein, ein Programm brauchen wir nicht. Wir kennen uns so gut, dass es genug zu erzählen gibt“, sagte Horst Ballmann. Nur eine CD mit der Musik aus der gemeinsamen Jugend habe er besorgt.
Ursprünglich hatten sich sogar 17 Teilnehmer angemeldet, doch in den letzten Tagen gab es noch einige Absagen, bedauerte Ballmann: von Rainer Nitukowski, von Erich Högn, Vater von Matthias, dem Vorsitzenden der Glashüttener Gemeindevertretung, und von Klaus Haack eine Stunde vor dem Treffen. Auch der langjährige Klassenkamerad Dr. Harro Brandt aus der Familie Amelung-Brandt, der als Neurologe an der Universität Heidelberg arbeitete und lehrte, musste passen. Er blieb über seine Frau Luise stets fester Bestandteil des Jahrgangs, auch wenn er sein Abitur gesundheitsbedingt erst ein Jahr später machte.
Auch er selbst habe wegen eines Hexenschusses Schmerztabletten nehmen müssen, erzählte Ballmann später, aber als Organisator ließ er sich natürlich nicht entschuldigen – und zitterte förmlich mit, bis das Dutzend endlich komplett war.
„Wo ist denn der Peter?“, fragten die Ersten, die nach und nach eintrudelten. Alle lebenslustig, mobil auf den eigenen Beinen, aber auch besorgt um das Wohlergehen jedes Mitglieds des Jahrgangs. So möchte man alt werden, denkt sich der neutrale Beobachter dieser eingeschworenen Gruppe. Es dauert eine geschlagene Stunde, bis Professor Peter Rothe mit seiner Frau eintrifft. Sie hatten aus Heidelberg die längste Anfahrt, aber zweieinhalb Stunden für 100 Kilometer nicht eingeplant. Damit ist der Kreis für diesen Abend komplett, es geht zum ersten Gang und zum Eintauchen in die gemeinsame Geschichte.
Erinnerungen an Nachkriegsjahre
Horst Ballmann ist auch als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs ein lebendes Buch. In dreieinhalb Jahren sei er in fünf Frankfurter Grundschulen gegangen, weil die aktuelle immer wieder bei Bombenangriffen in Schutt und Asche gelegt worden war. Obwohl es mehr als 80 Jahre her ist, kann er von Feuerwalzen erzählen, die sich durch die breiten Straßen walzten, ehe er mit seiner Familie im Winter 1943/44 mit ins Haus der Großmutter in der Frankfurter Straße, nun aber im halbwegs sicheren Königstein, umzog. Wenige Wochen später lag das frühere Wohnhaus der Familie an der Untermainanlage in Trümmern, die Nachbewohner sollen aber wohl alle vorher noch herausgekommen sein, meint Ballmann zu wissen.
Die Anfänge 1946 am Realgymnasium in Königstein waren interessant. Es gab nur zwei Klassen zu je 65 Schülern. In die eine kamen die Königsteiner Kinder, in die andere die Auswärtigen, die damals wie heute schon den Schulstandort Königstein wählten. Alle mussten damals Aufnahmeprüfungen ablegen. Erst zur Unterprima, das war der Jahrgang 12, erfolgte die Zusammenlegung. Da hatten alle schon das große Latein bei Majer-Leonhard abgelegt. „Ich hatte meine Probleme mit ihm, er konnte ein Knochen sein“, sagte Ballmann im weiten Rückblick mit einem Augenzwinkern. Die humanistische Ausbildung schadete freilich niemandem. Elf der 28 Abiturienten promovierten, fünf wurden zu Professoren berufen, alle blicken auf ein inhaltsreiches Berufsleben zurück, ob als Pädagogen, Unternehmer oder Manager – wie Horst Ballmann, der als Industrie- und Exportkaufmann Geschäftsführer der AEG-Tochter Modicon wurde, die am Werk Seligenstadt mit zeitweise 1.000 Beschäftigten elektronische Steuerungen für die Automatisierung in der Automobilindustrie herstellte. Und schon diskutierten die Männer engagiert, wer denn die „Überflieger“ gewesen seien. „Schöngeistig“ und auch „sportlich“ war das wohl der anwesende Studienrat i.R. Ernst Rhein, der schon in der Schule sechs Meter weit sprang und noch im fortgeschrittenen Alter das Tor der SG Bad Soden hütete – und in den Naturwissenschaften der Physiker und Unternehmer Herbert Bonrath, 2012 verstorben.
Aus dem Lehrerkollegium sehr beliebt war Dr. Hugo Baier, ein äußerst belesener Mensch, der acht Sprachen gesprochen habe, sowie Mathelehrer Helmut Eitel und insbesondere Klassenlehrer Werner Keil, die beide beim letzten großen Jubiläumstreffen vor 20 Jahren in der Villa Borgnis noch gemeinsam mit ihren früheren Schülern feierten.
Die Streiche, die sich der Jahrgang während der Schulzeit erlaubt hatte, waren da natürlich längst verziehen. Auch heute wird noch herzhaft darüber gelacht, wie die Schüler damals eine Französisch-Arbeit verhinderten, indem sie sich kopfüber über Tische und Bänke legten und die Lehrerin Frau Hens mit den Klassenarbeiten in der Hand plötzlich mehrere „ohnmächtige“ Schüler vor sich hatte. Oder wie man Physiklehrer Hartmut Hees mit einer Klingel an einer langen Strippe erschreckte. Aber es war auch eine harte Zeit. In den Anfangsjahren nach dem Krieg mussten die Schüler Holz zum Beheizen der Schule mitbringen, es gab so wenig zu essen, dass sie sich auch mal in den Obstgärten zwischen Königstein und Altenhain die Mägen vollschlugen – und wenn es sein musste mit Sauerkirschen.
Mit solchen Geschichten wurde es ein langer Abend, der bis nach Mitternacht dauerte. Das Hotelbett im Rettershof war für die von weiter weg Angereisten ja auch nur ein paar Schritte entfernt. Und das nächste Treffen soll schon in diesem Herbst stattfinden, an einem für den Jahrgang besonderen Ort – im Restaurant Bürgelstollen in Kronberg, wo vor 70 Jahren die Abiturfeier stattfand. Ballmann: „Wir haben uns für zwei Treffen im Jahr entschieden, wir haben ja nicht mehr so lang. “ Mit 90 ist man längst Realist. Und doch wurde an dem Abend auch laut über eine mögliche Feier in zehn Jahren nachgedacht ... dann wären die Ersten 100, doch diesem Jahrgang ist es allemal zuzutrauen, dass einige auch diese Zahl schaffen.