Strukturkrise und Reformbedarf: Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer fordert wirtschaftspolitische Neuausrichtung

v.l. Christoph Scharr, Annette Hogh (beide CDU Königstein), Referent Dr. Jörg Krämer und Norbert Altenkamp (MdB)Foto: privat

Königstein (kw) – Grund zum Optimismus besteht nach Ansicht von Dr. Jörg Krämer nicht beim Blick auf die derzeitige Lage der Wirtschaft hierzulande. „Bestenfalls ein Miniwachstum“ sei zu erkennen, sagte der Chefvolkswirt der Commerzbank während des jährlichen Grünkohlessens der CDU. Dazu laden die Königsteiner Christdemokraten seit 2006 ein. Belebe und erhole sich Produktion und Handel im kommenden Frühjahr, fällt das nach seiner Überzeugung „blutleer“ aus. „Unser Land befindet sich in einer tiefen Strukturkrise“, unterstrich der promovierte Volkswirt im Falkensteiner Bürgerhaus. „Wir fallen zurück, nicht nur gegenüber den USA, deren Produktivität seit Jahren kräftig zulegt, sondern auch im Euro-Raum“, hob er hervor. Sorge bereiten ihm zufolge jene Zweige der Industrie, die auf kostengünstige Energien angewiesen sind, namentlich die Automobil und die Chemiebranche.

„Wir befinden uns in einer Krise, ohne dass klar wäre, ob die nächste Bundesregierung von Parteien getragen wird, die ein gemeinsames Verständnis von den notwendigen wirtschaftspolitischen Reformen haben“, sagte der leitende Mitarbeiter des zweitgrößten deutschen Bankhauses und Königsteiner Bürger. Zwischen der zerbrochenen „Ampel“-Regierung und großen Teilen der Wirtschaft, besonders dem Mittelstand, sei das Verhältnis jedenfalls „zerrüttet“, charakterisierte Krämer einen Aspekt der Situation.

Worin liegen die Ursachen der Entwicklung, die nicht erst seit gestern zu beobachten sei? Zum einen sei Deutschland „Opfer des eigenen Erfolgs“ geworden. „Über fast ein Jahrzehnt profitierte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel von den Reformen ihres Vorgängers, unser Land kam aus der Finanz- und Wirtschaftskrise unglaublich gut heraus.“ Aufgrund gestiegener Löhne sei indes die Wettbewerbsfähigkeit geschrumpft.

Zum zweiten sei die hiesige Wirtschaft mehr als andere Volkswirtschaften sehr viel enger mit China verflochten. Gut, als das Reich der Mitte noch stark wuchs. Jetzt, da es schwächele und eine Politik wirtschaftlicher Eigenständigkeit betreibe, umso schlechter. Zumal sich in der Auseinandersetzung mit den USA ein Konflikt unterschiedlicher Systeme zeige. Habe Deutschland bei der Standortqualität Anfang des vorigen Jahrzehnts noch im Mittelfeld gelegen, verschlechterte sich das seit 2016 stetig. Steuern und Arbeitskosten sind Krämer zufolge wichtige Faktoren, aber auch die zunehmend sich verschlechternde Bildung und die hohen Energiepreise. „Das zu korrigieren, ist eine der dringenden Aufgaben der nächsten Bundesregierung“, mahnte er.

Schuldenbremse reformieren

Von einem Problem auf der Einnahmenseite könne nicht gesprochen werden, wohl aber seien die Ausgaben sehr viel schneller gewachsen. Der Wirtschaftswissenschaftler plädierte dafür, die Schuldenbremse zu reformieren. „Klar definierte Sachinvestitionen sollten ausgenommen werden“, formulierte er präzise und frei von floskelhaftem „Managersprech“. Wenn nicht mehr alle Schüler „ausbildungsfähig“ seien, spreche das nicht für die Qualität der Bildung im Land. „Bei Schulen und Universitäten geht es nicht nur um Geld“, unterstrich er, „vielmehr auch um Leistung.“ Es bedürfe einer anderen Leistungsethik. Dass beispielsweise die Bundesjugendspiele als Wettkampf abgeschafft worden sind, könne er nicht nachvollziehen. Wer gewinnen wolle, müsse auch lernen, einmal zu verlieren.

Nachdrücklich warb der Referent, der sich im Verwaltungsrat der katholischen Pfarrei Maria Himmelfahrt engagiert, für eine „veränderte Grundhaltung“. Krämer: „Wenn der Staat wieder seinen Bürgern und Unternehmern vertraut, dann reguliert er sparsam und mit Augenmaß.“ Dazu zähle auch, dass zunächst jeder Einzelne „für sein Leben verantwortlich ist und der Staat ihn nicht gegenüber allen Risiken absichert“. Das heiße zum Beispiel ebenfalls, „dass jeder selbst wissen muss, wie lange er arbeiten kann oder will“, sprach er sich für „bewegliche Altersgrenzen aus. „Vertrauen und die Freiheit, zu gestalten, setzen unglaubliche Kräfte frei“, resümierte er.

Krämer nahm sich im Anschluss viel Zeit, Fragen zu beantworten und zu diskutieren. Dabei kamen die Auswirkungen der Wahlen in den USA einschließlich der wahrscheinlichen Zölle auf Einfuhren ebenso zur Sprache wie Inflation, Geldpolitik und eine stärkere Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank.



X