Kronberg (aks) – Die kaiserliche Bibliothek im Schlosshotel bildet den würdigen Rahmen für den berühmten Schauspieler Michael Degen, der, kaum hat er am antiken Schreibtisch Platz genommen, mit der Lesung aus seinem neuesten Buch „Der traurige Prinz“ beginnt. Er wirkt ernst und konzentriert. Mit der Schauspielerei befasst sich auch sein autobiografischer Roman „einer wahren Begegnung“, die vor dreißig Jahren in Vaduz stattfand. Oskar Werner lädt Degen nach seinem Auftritt im Theater spontan zu einem Drink zu sich nachhause ein, dem viele in dieser langen Nacht folgen werden – eine schicksalhafte Begegnung, die in einem konspirativen Rausch endet. „Woher kenne ich diese Augen?“. Als der jüngere Schauspieler den weltberühmten Kollegen im Foyer erkennt, wird ihm klar, dass „ich ihn als Vorbild bezeichnet hätte, wäre ich unbescheidener gewesen“. Werner besteht in dieser Nacht auf seinem bürgerlichen Namen, Oskar Josef Bschließmeier. Er lädt den jüngeren Kollegen in sein Haus mit dem herrlichen Seeblick ein – „eine einmalige Gelegenheit“. Während Michael Degen noch versucht, sich der Situation anzupassen, hat Werner schon zahlreiche Fernet Branca konsumiert – und zwar in einem Zug, sehr zum Erstaunen seines Gastes. Er kredenzt ihm eine Flasche grünen Veltliner. „Ein Geschenk des Hauses Bründlmayer. Mein Lieblingswein“, Degen freut sich beim Vorlesen am wienerischen „Schmäh“. Gleich zu Beginn entspinnt sich ein wirres Gespräch um drängende Fragen, die eine klare Antwort einfordern. Das Interesse der beiden Gesprächspartner aneinander ist groß, die Themen kreisen um Rollen und Autoren, Regisseure, persönliche Erfahrungen, um Gott und den Glauben. In den Bücherregalen entdeckt Degen lose gebundene Manuskripte – Filmangebote der letzten Jahre: „Ich habe keines gelesen.“ Das klingt hoffnungslos, es scheint als sei der große Schauspieler schon am Ende angekommen zu sein, das Interesse an neuen Rollen hat er verloren.
Eigentlich wollte Werner Musiker werden, doch mit seiner geliebten Großmutter „Großi“ ging er ins Theater und spielte die Rollen dann für seine Mutter nach. „Über den Oskar wirst du noch staunen“, sagte die Großmutter immer wieder, „der hat es in sich, das spüre ich.“ Sein schauspielerisches Talent bewies er schon mit sechs Jahren als er einen blinden Jungen auf der Straße mimte, der prompt das Mitleid der Passanten erweckte: „Der blinde Oskar – ich hätte es dabei belassen sollen.“ Fasziniert hat ihn dabei die Zauberei, die Direktheit ganz anders als die Distanz der Komödianten auf der Burg – „die erste Reihe ist zwei Meter von der Bühne entfernt!“ Er will spontan wissen, ob der junge Kollege aus dem Stand in Tränen ausbrechen könne? Für ihn sei es immer eine Wonne gewesen, die Leute zum Lachen oder zum Weinen zu bringen. Die Welt hielt er für ein Paradies, verführerisch, und doch „zum Speiben“. „Ich wollte König sein – dann hätte ich sowas wie die Nazis nicht zugelassen.“ seine selbstvergessenen Monologe unterbricht er immer wieder mit Fragen an sein Gegenüber: „Glauben Sie an Gott?“ Degens Antwort: „Die Juden tun das noch. Die haben ihn nicht getötet, sondern erfunden.“ Oskar philosophiert, dass Jesus ein Irrtum gewesen sei, seine physische Existenz ging dahin, „seine größte Qual war, dass er das Wissen besaß, was er von der menschlichen Natur zu halten hatte“. „Wo ist der Hauch seiner Gegenwart?“ das klingt nach spiritueller Sehnsucht, und nach dem Wunsch nach Beistand.
Die Schauspielerei hat ihm, Werner, keine Reife gebracht: sie ist ein „unerwachsener Beruf“. Shakespeare folgte er stets begeistert, der dem Publikum den Spiegel vorgehalten hat. Ob er auch mal Shakespeare gespielt hat? Ohne eine Antwort abzuwarten, führt er aus, dass dies der Ritterschlag für jeden Schauspieler ist.
Mit dem steigenden Alkoholpegel steigt auch der Hang zum Selbstgespräch. Der junge Gast wird mit Emotionsausbrüchen überschüttet, die dieser gut pariert, empfindet er doch eine große Bewunderung für seinen berühmten Gastgeber und nimmt dessen Leidenschaft ganz in seine Seele auf. Auch wenn er nicht jede Gefühlsregung verstehen kann, weiß er instinktiv um die Einzigartigkeit dieser Nacht, die von wahren Empfindungen und Offenheit geprägt ist, die „himmelhochjauchzend zum Tode betrübt“ die verletzte Künstlerseele offenbaren. Degen wohnt einem künstlerischen Offenbarungseid bei und hütet sich, den älteren Kollegen in seinem Redefluss zu bremsen, geschweige denn, ihn mit seiner eigenen Meinung zu provozieren.
„Ich hatte keine andere Wahl – ich wurde Schauspieler, um nicht ich zu sein“, lautet Oskars schizophrenes Bekenntnis. „Ist Degen Ihr echter Name?“
„Weshalb gehen Sie so barbarisch mit Ihrem Leben um?“, will der Jüngere vom Älteren wissen. „Mit Blitz und Donner in die Grube?“ „Gar nicht so falsch“, schmunzelt Werner und fasst sein Leben so zusammen: „Ich liebe den Erfolg und die Literatur – und einen guten Wein.“ Fernet Branca ist „wie ein Medikament, damit ich den Weißwein besser vertrage“. Michael Degen blickt kurz auf und freut sich über die Lacher im Publikum. Der Schauspieler Degen liest mit großem Feingefühl. Man hört jede Nuance in seiner Stimme sehr deutlich, dafür muss er nicht laut werden oder pathetisch. Eher verhalten und leise trägt er den Dialog der beiden Schicksalsgefährten in dieser Nacht vor. Der Wiener Dialekt Werners schmeichelt sich durch die durchzechte Nacht, behält seinen Charme, wirkt nie plump oder klebrig.
Auch nach dem Absacker lässt der Hausherr seinen jungen Gast nicht gehen, er will nicht allein bleiben. „Sind Sie lebensfroh?“ „Höchstens manchmal“. Es folgt eine schonungslose Selbstanalyse des großen Künstlers: „Ich ekele mich vor mir selbst ...Das ist die Qual des Alters – man kriecht in den einen und dann in den anderen – und verliert den eigenen.“ Degen gibt sich ganz der magischen Sprachmelodie des großen Künstlers hin, „betörend, magisch, wie in der Staatsoper“.
Die betrunkenen Protagonisten bewegen sich wie im Rausch und geraten aneinander, drohen sich mit der leeren Flasche zu schlagen und beschimpfen sich als Egoisten. Zuhören ist nicht Degens Talent, dennoch ist es für einen würdigen Abschied zu spät. Total „weggesoffen“ geht es immer weniger um den Inhalt als um den Ton: „Der Ton und nicht der Inhalt macht die Musik“. Degen erinnert sich an den phänomenalen Auftritt Werners in Frankfurt als Prinz von Homburg. „Würden Sie die Rolle heute mit mir besetzen?“, will der 62-Jährige wissen. „Davon würde ich Ihnen dringend abraten“, lautet der Rat des Jüngeren. „Warum muss ich jung sein für die Rolle: Junges Mädchen, älterer Mann, das ist doch ganz akzeptabel. Der alte Homburg!“ Degen gruselt bei dem Gedanken. „Man muss aufhören können.“
Diese Nacht verändert Degens Leben, er blickt in die Seele eines großen Künstlers am Ende seines Lebens, der an sich selbst verzweifelt und sein Schicksal nur noch trinkend erträgt. Oskar Werner, der für den Oscar nominiert war, mit renommierten Regisseuren gearbeitet hat wie Ingmar Bergmann und Francois Truffaut (Jules et Jim) und mit Richard Burton gespielt hat, Angebote von Stanley Kubrick aber abgelehnt hat, hat die Zuversicht verloren. Ein sehr persönliches Buch, das dem Leser die Seelenqualen eines großen Künstlers so nahe bringt, dass man es kaum aushält – vom Autor Michael Degen selbst gelesen: Ein bewegender Ohrenschmaus.