Kronberg (aks) – Der Kultursender hr2 hatte zum Tag der Literatur geladen, und viele zog es in die Scheune von Dirk Sackis (Kronberger Bücherstube), wo Kulturredakteur Jesko von Schwichow den Schriftsteller Michel Bergmann freudig begrüßte, der nach seiner erfolgreichen Regie- und Drehbucharbeit erst im späteren Leben seine Erfüllung als Schriftsteller fand. 2010 erschien sein erster Roman „Die Teilacher“ und nach weiteren sechs Romanen, mit 78 Jahren, dann das Buch „Mameleben“ – Erinnerungen an seine Mutter, die ihm „nie abhanden gekommen“ war und mit der er stets gehadert hätte. Kein Gebot habe „so intensiv die DNA infiziert“ wie das vierte Gebot: „Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt“ (Ex 20,12). Seinen Vater hat der Autor mit elf Jahren verloren – so blieb ihm nur, seine Mutter zu ehren: eine stolze und schöne Frau „wie eine Königin“, die von den Nationalsozialisten um ein glückliches Leben betrogen wurde und die ihren Sohn von klein auf quälte mit Sätzen wie: „Das schmeckt dir nicht, soll ich dir sagen, was es im Lager gab?“ oder „für wen habe ich das alles durchgestanden?“. Ihre Liebe war „gnadenlos und verpflichtend“ und „Ursache für dieses Buch“. Mutterliebe als permanente Herausforderung – Michel Bergmann gelingt das schonungslose Porträt einer Frau, die selten pädagogisch wertvoll handelte und den Sohn oft genug zur Weißglut trieb mit ihrem „großartigen Selbstbewusstsein“, ständig dozierend „mit ihren Worten in Stein gemeißelt“. Er bedenkt sie mit dieser Geschichte voller Melancholie, mit Augenzwinkern und beißender Ironie. Er beschreibt seine Mutter Charlotte mit all ihren „Macken“. „Sie war sich selbst genug…auf unerträgliche Weise mit sich selbst im Reinen…sie kann fluchen und lächeln zugleich“. „Arroganz muss man sich verdienen“ war ihre Einstellung. Und ihr Sohn? Der geriet schon als Kind unter Druck: „Ich erfülle nicht ihre übermenschlichen Erwartungen, ich kann ihre Familie nicht ersetzen, die im Höllenfeuer umgekommen sind.“ Ständig habe seine Mutter ihm das Gefühl gegeben, nicht gut genug zu sein, „zu klein, zu pummelig, zu unauffällig“ und setzte als Korrektiv ein Pflichtprogramm mit Klavier, Tennis und Hebräisch dagegen.
Als Arzt hätte er ihr sicher alle Ehre gemacht, da ist sich Bergmann ganz sicher: „als Krebskiller und Nobelpreisträger“, das Publikum lacht schallend. Aber es kam anders, und Michel Bergmann wurde gegen ihren Willen Regisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller. Dass seine Mutter doch ab und zu stolz auf ihren berühmten Sohn war, erfuhr er nie direkt von ihr. Immer gab er sich die größte Mühe, seine Mutter zu lieben und zu ehren, und erlebte als Kind doch nie das Land, in dem Milch und Honig fließen – in dem Kinder mit Mutterliebe überschüttet werden. Als Sohn einer Jüdin, die der Vernichtung entkommen war, wusste er um den Grund ihrer Härte und ihres Zorns, doch war es ihm unmöglich, diesen Generationenkonflikt aufzulösen. Das Trauma der Überlebenden plagt immer auch die nächste Generation. So schleppte der Autor sein Leben lang das Leitmotiv von schlechtem Gewissen und Schuld mit sich herum. Übermütter und Überväter hält Bergmann für eine „giftige Dosis für Kinder“. Schließlich hätten Kinder das Recht, unversehrt und glücklich zu leben.
Selbst ein glückliches Leben zu führen an der Seite seiner Mutter wurde zu seinem persönlichen Überlebenskampf. „Es gibt Menschen, die den Holocaust überlebten, aber nur wenige, die weiterlebten.“ Große Heiterkeit erregt die Situationskomik einer Reise seiner Mutter ins Lubéron, wo die elegante Mutter auf einem sechzigsten Geburtstag in Stöckelschuhen über die Kieswege stolpert und in ihrem hohen Alter die übrigen Gäste mit lasziven Gesten zum Tanzen animiert. Dabei ist das Schicksal der „Mame“ zum Weinen: Herumgeschubst und gequält von den Nazis nicht nur in Deutschland, bringt sie ihren Sohn Michel 1945 in Basel zur Welt und kehrt 1956 nach Frankfurt zurück „in die Goethestraße, wo heute Hermès ist“. Dort betrieb sie nach dem Tod ihres Mannes die Wäscherei „Gebrüder Bergmann“. Die jiddischen Einsprengsel verleihen dem Buch ein lebendiges Lokalkolorit, der typisch jüdische Witz macht die Lektüre zu einem Vergnügen: Galgenhumor mit einem Talent zur Selbstironie, die der Autor als Sprecher und Schauspieler an diesem Mittag mitreißend zum Ausdruck bringt.
Wache Aufmersamkeit
Der wachen Aufmerksamkeit Bergmanns entgeht nichts, und so freut er sich über die Anteilnahme und über die vielen Fragen aus dem Publikum, einfühlsam moderiert von Jesko von Schwichow. Vor allem aber scheint ihn der Spaß seiner Zuhörer zu motivieren. Schreiben sei für ihn vorbehaltloses Eintauchen, das Mut kostet und viel Freude bringe. Die Beziehung zu seiner Mutter, „in inniger Abneigung verbunden“, hat ihn ein Leben lang herausgefordert, und es lag nahe, sie als eine Art Therapie aufzuschreiben. Entstanden ist eine berührende, nicht unproblematische Liebeserklärung an seine „Mame“ – ein Mensch, der schuldlos in die Fänge von Tätern geriet, denen jede Menschlichkeit abhanden gekommen war. „Ihr Glück wurde ihr gestohlen.“ Am Sonntag ist Muttertag. Feiern wir also unsere Mütter und die Mutterliebe. Im besten Sinne steht das vierte Gebot für die Pflicht, das Leben unserer Eltern als Bewahrer der Tradition zu respektieren und sie im Alter nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Für Gläubige eine Frage der Ehre: Wer seine Eltern würdigt, würdigt Gott selbst und erweist ihm Achtung und Ehre.