375 Jahre Stierstädter Lebenserfahrung

Die Männer von der Heimatstube an einem Ort mit Symbolwert: Am alten Brunnen aus dem 19. Jahrhundert mit dem Stier, der einst aus den Alpen in den Taunus kam, auf dem Heinrich-Geibel-Platz zwischen altem Rathaus, Feuerwehr und einem der vielen Vereinsheime im Hintergrund, Mit dabei Lothar Frey, Hubert Kraus mit Stierstadt-Fahne, Dietmar Rehländer und Hans-Richard Matern (v. l.). Nur Karl Glock fehlt beim Mannschaftsfoto. Foto: js

Von Jürgen Streicher

Oberursel. Wenn 1500 Menschen in einem kleinen Ort eine Ausstellung zur Dorfgeschichte sehen wollen, dann könnte das als ein Zeichen, ein Machtwort oder gar eine Aufforderung verstanden werden. Als Stierstadt im Jahr 2000 seinen 1250. Geburtstag feierte, strömten die Besucher nur so in die Vereinsturnhalle, um Dokumente, Fotos und andere Reliquien ihrer aller Geschichte zu sehen. Und vielleicht auch ein bisschen ihrer ganz persönlichen Geschichte. Es war in den Köpfen einiger wackerer Männer gedanklich die Geburtsstunde der „Heimatstube Stierstadt“. Ortsgeschichte sammeln und für die Nachwelt erhalten, wurde zum erklärten Ziel der Männer im Hintergrund, die jene Aufforderung wörtlich nahmen

„Wir müssen mal was tun“, lautete damals die Essenz der Erkenntnis. Hoch und weit wollten sie das Ziel stecken, nichts weniger als „die Stierstädter Chronik von August Korf weiterschreiben“, so Hubert Kraus, wurde als Richtschnur ausgegeben. Die Korf’sche Chronik endete 1911, die Jahre danach sollten nicht verloren gehen. Nicht einfach, da fehlte halt eine Generation zwischen Korf und seinen Epigonen, die bei der Jahrtausendwende auch schon in ihren 50ern waren. Bescheidener sind sie schnell geworden, aber ungebrochen der Elan, Bilder und Geschichten aus der Heimat zu sammeln, zu bewahren, bisweilen zu gedruckten Schriften in schmalen Bändchen zu verarbeiten oder öffentlich dem geneigten Publikum bei Ausstellungen zu zeigen.

Wenn rund 375 Jahre Stierstädter Lebenserfahrung in der Runde am Tisch sitzen, dann ist das eine Bank für gute Geschichten und oft wertvoller als eine offizielle Chronik. Weil dann die Erinnerungsblitze wie Pingpong-Bälle von einem über den anderen zurück an die Quelle springen, und schwupps, ist da wieder eine Geschichte aus dem Ort der Sandhasen, wie sie hier genannt werden. Der Konter von Hubert Kraus (72) kommt sofort, wenn man diesen Affront der Nachbarn erwähnt: „Besser als Halbseidene“, denn so nennen die Stierstädter jene Nachbarn aus Weißkirchen, die ihnen gerne mal mit den Sandhasen kommen. Hubert Kraus ist der „Motor“ des fünfblättrigen Kleeblatts, er hält die 375 Jahre Stierstädter Treibstoff in Fahrt. Fünf Männer, deren Herz für Stierstadt schlägt. Mit Erinnerungen aus erster Hand und einem weit verzweigten Netzwerk an Informanten sind sie vor 20 Jahren angetreten, Ortsteil-Geschichte zu schreiben. Bedingt natürlich, denn bis zur Gebietsreform war Stierstadt ja ein eigenständiger Ort, mit einem Bürgermeister, der durch Losentscheid an die Macht im Rathaus kam. Auch dafür gibt es einen schriftlichen Beleg, ein Highlight unter den Schriftstücken, die in der „Heimatstube“ an der Wand hängen.

Schon bei der 1200-Jahr-Feier dabei

Hans-Richard Matern, mit 78 Jahren der Zweitälteste in der Runde, war schon 1950 dabei, als die 1200-Jahr-Feier anstand. Als es Zeit war, nach langen entbehrungsreichen Jahren mal wieder das Leben zu feiern. Der legendäre Hochkommissar in der amerikanischen Zone von Deutschland, John Jay McCloy, hatte damals die Schirmherrschaft übernommen, als der Festzug durch den 1800-Seelen-Ort rollte und marschierte. Hans-Richard Matern auf seinem ersten Rad fuhr mit, als Mitglied der Laienspielschar. So etwas prägt, auch dass der Ur-Ur-Großvater Mitgründer der Spar- und Darlehenskasse war. Matern wurde Banker und kennt sich gut aus mit der Entwicklung der Genossenschaften, hat einen „Mordsbericht“ darüber geschrieben, sagt Hubert Kraus. In der zweiten Ausgabe der „Stierstädter Hefte“, erschienen im Dezember 2005. „Landwirtschaft, Genossenschaften, Geldinstitute“ waren die Themen auf knapp 60 Seiten. 500 Exemplare zu fünf Euro wurden gedruckt und fast komplett verkauft. Bei Heft 1 (Juli 2004) musste sogar nachgedruckt werden, es ging um „Vereine, Interessengemeinschaften, Schulen, Kirchengemeinden“. Der Entschluss, statt der fortgeschriebenen Korf’schen Chronik Hefte zu einzelnen Themen zu produzieren, war ein Treffer. Kraus: „Das ist viel Arbeit, wir sind stolz drauf.“ Auch, dass viele Neubürger die Informationen über die Vergangenheit „aufsaugen“, freut die älteren Herren, die sich auch dem Erhalt von Traditionen verschrieben haben. Anfangs waren Hubert Kraus, Hans-Richard Matern und „Senior“ Karl Glock (81) zu dritt, 2009 vervollständigten Feuerwehr-Experte Lothar Frey (74) und Dietmar Rehländer (72) das Quintett, das als Untergruppe im Vereinsring Stierstadt firmiert.

Amtsstube wird Heimatstube

Es ergab sich, dass just nach dem Jubelfest anno 2000 ein Raum im ehemaligen Rathaus frei wurde, eine Amtsstube sozusagen, die zur „Heimatstube“ wurde, von nun an Treffpunkt derer, die sie beleben und mit reichlich Sammelsurium füllen sollten. Als sich dann der Gesangverein „Taunus-Liederzweig“ zum Jahresende 2014 auflöste, kam noch „Raum 8 im Alten Rathaus“ dazu, ein kleiner Ausstellungsraum mit Vitrinen für die Vielzahl inzwischen gesammelter Gegenstände wie Anstecknadeln, Gläser, Lebensmittelkarten, Bembel, Tischfahnen, Feuerlöscheimer, Dreschflegel und der letzten Gemeindeschelle. Und wieder was gelernt, der letzte Gemeindediener oder Ortsdiener war August Brum, der Großvater des heutigen Bürgermeisters Hans-Georg Brum, der einer von rund 6000 Bewohnern Stierstadts ist. Dessen Ja-Wort hätten sie bestimmt bekommen für die eigentlich geplante große Ausstellung zum 20. Geburtstag der „Heimatstube“. Auch für eine neue Ausgabe der „Stierstädter Hefte“ wäre es wieder mal Zeit, die Ausgabe 3 war kurz vor Weihnachten 2010 erschienen.

Mit den Themen „Veranstaltungen, Feste, Jubiläen“ war sie natürlich ein Renner. Und wäre es auch bei einer Jubiläumsausstellung. Wo sonst trifft man so viele Stierstädter, die ihre Feste und das Vereinsleben so lieben. Wo sonst werden so viele Fotos geschossen wie bei solchen Ereignissen. Herrlich, die Bilder dann Jahre später wieder zu sehen, die Köpfe an den Tafeln zusammenzustecken, alte Bekannte und Freunde oder gar sich selbst zu entdecken. Genau das mache doch den Zauber solcher Veranstaltungen aus, sinnieren die 375 Jahre Stierstädter Lebenserfahrung in der Heimatstube. „Man muss doch die Köpfe zusammenstecken.“ Deswegen gibt’s im Corona-Jahr eben keine Ausstellung. Vielleicht im nächsten Jahr dann, so genau nehmen es die Stierstädter mit Jubiläumsdaten nicht. Aber das ist eine ganz eigene Geschichte.

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