60 Jahre Amnesty International, 50 Jahre in Oberursel/Steinbach

Oberursel (ow). Am 28. Mai 1961 veröffentlicht der britische Anwalt Peter Benenson in der Zeitung „The Observer“ den Artikel „The Forgotten Prisoners“, der mit den Worten beginnt: „Schlagen Sie Ihre Zeitung an irgendeinem beliebigen Tag auf, und Sie werden eine Meldung aus irgendeinem Teil der Welt lesen: Ein Mensch ist eingekerkert, gefoltert, hingerichtet worden, weil seine Ansichten oder religiösen Überzeugungen nicht mit denen der

Regierung übereinstimmen.“ Benenson ermuntert die Leser, mit Appellschreiben öffentlichen Druck auf die Regierungen auszuüben und von ihnen die Freilassung politischer Gefangener zu fordern. Dieser „Appeal for Amnesty“ ist der Beginn der Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

Zehn Jahre, nachdem die Mutterorganisation gegründet wurde, riefen Heide André und ihre Mitstreiterinnen die Gruppe Steinbach ins Leben. Später schloss sie sich mit der noch etwas jüngeren Gruppe Oberursel zusammen. Bis heute arbeiten alte und neue Mitglieder beharrlich dagegen, dass politisch Gefangene vergessen werden und erzeugen mit ihren Appellen, Briefen und Aktionen öffentlichen Druck auf Verantwortliche, Minister, Präsidenten, Botschafter, Autokraten, Despoten und Diktatoren auf der ganzen Welt.

Damals wie heute gibt es viel zu tun: Derzeit setzt sich die Gruppe Oberursel/Steinbach für zwei Personen ein, die im Gefangenenlager auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba inhaftiert sind: Ammar al-Baluchi und Toffiq al-Bihani. Beide erlitten nachgewiesenermaßen Folter. Im Falle von al-Bihani liegt bis heute nicht einmal eine Anklage vor, gleichwohl wird er seit fast 20 Jahren gefangengehalten. Deshalb fordert die Gruppe seine dringende Freilassung. Al-Baluchi ist wegen Beihilfe zu den 9/11-Anschlägen angeklagt. Ihm droht die Todesstrafe, wogegen sich Amnesty strikt ausspricht. Zudem soll sein Fall vor einer sogenannten Militärkommission verhandelt werden, was aus Sicht von Amnesty International nicht dem rechtsstaatlichen Gebot des fairen Verfahrens entspricht.

Die Pandemie zwang die Gruppe zuletzt dazu, ihre Aktivitäten überwiegend auf das Schriftliche zu beschränken. Im Gegensatz zu früheren Jahren waren keine Gottesdienste, Filmvorstellungen, Ausstellungen, Mahnwachen oder Infostände möglich. Für ihre Treffen griff die Gruppe zeitweise auf digitale Möglichkeiten zurück und traf sich monatlich per Videochat. Aktuell kommt sie zu ihren Treffen wieder in der Stadthalle Oberursel zusammen. Ihre Appellbriefe, Aktionsaufrufe und Petitionen stellt sie im Internet unter amnesty-oberursel.de zur Verfügung.

In der Vergangenheit gab es für die internationale Bewegung zahlreiche Erfolge. Die Kampagnen-, Lobby-, und Aktionsarbeit von Amnesty International hat auf internationaler

Bühne einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass es unter anderem seit 1987 eine internationale Anti- Folter-Konvention, seit 2002 einen Internationalen Strafgerichtshof, seit 2006 einen UNO- Menschenrechtsrat und seit 2014 einen Waffenkontrollvertrag gibt.

Auch die Gruppe Oberursel/Steinbach ist stolz auf die Erfolge, zu denen sie beitragen konnte. Gruppensprecher Rusen Cikar ist überzeugt: „Wer glaubt, Briefe schreiben und Plakate in die Luft halten bringe doch nichts für die Betroffenen, irrt sich gewaltig. Der große zivilisatorische Fortschritt, der gerade mit dem Erstarken des internationalen Menschenrechtsschutzes nach Ende des Zweiten Weltkriegs erreicht wurde, ist, dass nicht einmal der grausamste Diktator offen Menschenrechtsverletzungen zugestehen kann. Dieser international herstellbare öffentliche Druck ist nicht zu unterschätzen. Wurde er einmal wirksam erzeugt, wurden Gefangene auf Aktionen von Amnesty International hin auch schon freigelassen, falls nicht, wurde ihnen mindestens der Zugang zu angemessener medizinscher Versorgung, zu ihren Anwälten oder der Kontakt zu ihrer Familie gewährt.“

Auf einer Jahresversammlung der deutschen Sektion hat die Gruppe Oberusel/Steinbach vor wenigen Jahren gemeinsam mit zwei weiteren Gruppen angestoßen, verstärkt den Zusammenhang zwischen Klimakrise und Menschenrechtsverletzungen in der Öffentlichkeit zu thematisieren. Ihr Antrag wurde mit einer deutlichen Mehrheit angenommen. Die Gruppe hofft, dass die Aktionen von Amnesty endlich dazu beitragen, dass Regierungen weltweit substanzielle Maßnahmen im Sinne des Klimaschutzes ergreifen.



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