Oberursel (fch). Die letzte Lesung im Rahmen der ersten Oberurseler Literaturtage bestritt am hessenweiten „Tag für die Literatur“ Anne Weber. Mitgebracht hat die Autorin in die Kunstbühne Portstraße ihr Zeitreisetagebuch „Ahnen“. Es handelt von einer Reise, die die Autorin auf den Spuren ihres 1924 verstorbenen Urgroßvaters Florens Christian Rang unternimmt. Ihre Recherchen führen sie in eine zugleich befremdende wie faszinierende Welt und damit in die Abgründe und Höhenflüge einer ganzen Epoche.
Ihren Urgroßvater nennt die Autorin „Sanderling“. Sie vergleicht, den 1864 in Kassel geborenen und 1924 im Alter von 60 Jahren infolge einer Rückenmarkserkrankung in der Klinik Hohe Mark in Oberursel verstorbenen, Gelehrten und seine Geschichte mit dem Watvogel Sanderling. Beobachtet hat sie den in großen Schwärmen auftretenden Vogel an der französischen Küste. Unermüdlich und hektisch suchen die zur Gattung Strandläufer gehörenden Vögel den Strand nach angespülten Kleinkrebsen oder Würmern ab. Dabei weichen sie ankommenden Wellen mit flinken Schritten aus, um beim Ablaufen des Wassers ihre Suche erneut fortzusetzen.
Florens Christian Rang war Jurist, Pfarrer in zwei Dörfern bei Posen, Schriftsteller und Philosoph. Er korrespondierte mit Hugo von Hofmannsthal, war befreundet mit Martin Buber und Walter Benjamin. Der hochgebildete Mann fühlte sich geistig bei den Griechen und Römern, bei Shakespeare, Goethe und Dante zu Hause. Er war ein Kind seiner Zeit und zugleich eine schillernde Persönlichkeit. Er wandelte sich „in der Zwischenkriegszeit“ vom Nationalisten zum Denker eines vereinten Europas. „Viele Eigenschaftswörter würden auf ihn passen: der Suchende, der Wahnsinnige, der Haltlose, der Radikale, der Unbändige ... Das Erste, was mich für den Mann erwärmte, war, dass sein nur in Fragmenten überliefertes Hauptwerk den Titel ,Abrechnung mit Gott’ tragen sollte.“
Seine 1964 in Offenbach geborene und in Paris lebende Urenkelin spürt in „Ahnen“ der eigenen Familiengeschichte, die zugleich ein Stück Zeitgeschichte ist, nach. Als unehelich geborene Tochter hatte sie zur Familie ihres Vaters wenig Kontakt, war nicht Teil der mündlich tradierten Geschichte. Sie näherte sich der familiären Vergangenheit quasi von „Außen“, mit Distanz, an, wie sie im Gespräch mit Gudrun Dittmeyer vom Verein „LiteraTouren“ berichtete. Bei ihrer Recherche gerät die nationalsozialistische Vergangenheit des Urgroßvaters in den Blick. Sie stellt sich die Frage, was bedeutete es vor 100 Jahren, deutsch zu sein? Und wie ist es heute? Die Spurensuche der Urenkelin endet nicht mit dem Tod des Urgroßvaters. In den Fokus rückt anschließend die Zeit zwischen seinem Leben und dem Leben der Autorin. Es ergeben sich neue Fragen. Wie haben sich der Vater und dessen Vater im nationalsozialistischen Deutschland verhalten?
Gegliedert ist das Buch in drei Zeiträume. In die Zeit des Urgroßvaters in Posen von 1890 bis zu seinem Tod 1924 in Oberursel. In die Lebenszeit des Vaters, der Flakhelfer war und 17 Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Und in die Zeit danach, die in der Gegenwart beginnt. Die Autorin stellt sich in ihr der Nazi-Zeit und damit dem Leben ihres Großvaters und der Nachkriegsjahre. Zentrales Thema ist das nach dem Krieg herrschende Schweigen über die begangenen Verbrechen. Dieses Schweigen ist es, das schwer auf der Seele der Tochter lastet.
Im Gespräch mit Gudrun Dittmeyer erzählte Autorin Weber von ihren Recherchen, von ihren Fragen, von ihren Reflexionen und von ihren Empfindungen bei diesen Recherchen. Sie spricht über ihre Erkenntnis nach der Lektüre des Buches ihres Urgroßvaters „Die deutsche Bauhütte“, einem leidenschaftlichen Appell zur Reparationsfrage nach dem Ersten Weltkrieg. „Er fragt nicht nach Verträgen und Institutionen, sondern wendet sich an das Gewissen jedes einzelnen. Jeder Einzelne muss etwas tun, damit sich etwas verändert.“ Das Thema des Buches „Ahnen“ ist neben der Familiengeschichte zugleich ein politisches. Und eignete sich damit perfekt für eine Lesung am Tag der Europawahl.