Die Kerb fällt aus, aber sie lebt

Trotz widriger Umstände verstehen es die Kerbe-Jünger, unter Corona-Bedingungen auf ganz besondere Weise zusammen mit den Kirchengemeinden zu feiern: Der Baum steht, die Fahne flattert!Fotos: HB

Von Hans-Jürgen Biedermann

Steinbach. Die Stadt ohne Kerb! Keine Fahrgeschäfte auf dem St.-Avertin-Platz, kein Fassanstich und kein Armdrücken – das alles stimmt. Aber die Kerbebursche haben sich durchaus nicht versteckt, sondern Flagge gezeigt. Der traditionelle Baum stand nicht neben dem Bürgerhaus, sondern im Wiesengrund. Johann, das Maskottchen, wurde wieder aus dem Depot geholt und die jungen Männer in den schwarzen Hemden und den Strohhüten mit den gelb-blauen Bändern in den Stadtfarben auf dem Haupthaar zogen vergangenen Samstag im Namen der Kerbegesellschaft „Gut Schluck“ durch die Straßen. Die Botschaft war eindeutig: Die Kerb lebt!

Ökumenische Gottesdienste sind ein Privileg des Stadtfests. Diesmal wollte man zu neuen Ufern aufbrechen und im Kerbezelt mit Pfarrer Herbert Lüdtke und Pastoralreferent Chris-tof Reusch das Vaterunser beten. Das hörte sich gut an, doch Corona funkte dazwischen, und so wurde der Plan modifiziert und ein weiterer Videogottesdienst geboren. Der Pakt ist keine Momentaufnahme.

Kirche und Kerb haben vielmehr eine gemeinsame Fest-Tradition, die bis zur Kirchweih im Mittelalter zurückreicht. Die Satzung von 2002 verpflichtet die Kerbegesellschaft, das Brauchtum zu pflegen und alljährlich zum geselligen Treiben einzuladen. Dieses Mal waren Alternativen angesagt, denn vor vier Wochen stand für den Vorsitzenden der Zunft, Michael Wolf, und seinen Stellvertreter Gerd Rother fest: Eine richtige Kerb ist mit den Corona-Regeln unvereinbar. Damit war klar, ein Volksfest unter dem Kerbebaum war ausgeschlossen. So bewegte sich am vergangenen Freitag keine Lampion-Karawane durch die Steinachaue wie sonst am zweiten Freitag im Oktober. Bürgermeister Steffen Bonk durfte das Ebbelwoifass nicht zum Laufen bringen, es spielte keine Liveband, die Feuerwehrkapelle aus Stierstadt blieb zu Hause, und der finale Familientag fiel ins Wasser.

Kerbebaum en miniature

Stattdessen versammelten sich sich die Kerbe-Jünger am Samstag zum Frühstück mit Fleischwurst und Weck im Kleingarten auf dem Taubenzehnten, kürten dort eine Fichte zum Kerbebaum und zogen mit ihr durch die Stadt. „Wir wollten den Steinbachern zeigen, dass die Kerb nicht tot ist“, verkündete Kerbevater Sascha Wenzel und freute sich über die wohlwollenden Reaktionen der Steinbacher. Abgesehen von vereinzelten „Helau“-Rufen, die den rund 30 Zugteilnehmern gar nicht gefallen haben: „Die Bube sind back in town“, war in der Bahnstraße in der „Berliner“ und im Hessenring unübersehbar.

Später haben die „Bube“ die kleine Version des Kerbebaums im Vorgarten der Geflügelzüchter in einem Stahlfuß verkeilt, das Kerbelied gesungen und die neue Fahne ausgerollt, auf der das Corona-Virus auf die Schippe genommen wird. Wer weiß schon, ob es zur Kerbezeit 2021 besiegt ist? Eigentlich wird der Johann, der Schutzpatron der Steinbacher Kerb, am Ende der vier Feiertage verbrannt, damit eine neue Strohpuppe das Wächteramt übernehmen kann, doch der Johann 2020 lebt noch mindestens ein Jahr weiter. Er saß in einer schmucken khakifarbenen Jacke und in Gummistiefeln ganz entspannt auf einer Bank vor der mit Luftballons geschmückten Terrasse der Geflüchelzüchter – dort klang die alternative Kerb am Samstag abend aus. .

Am Sonntagmorgen wollten die christlichen Gemeinden eigentlich einen Altar auf dem Zeltplatz am Hessenring aufbauen. Doch der ökumenische Gottesdienst musste im kleinen Kreis stattfinden und wurde aus dem Foyer des Bürgerhauses im Netz übertragen. Die Delegation der Kerbegesellschaft war zum ersten Mal zu einem Dialog unter dem Kreuz eingeladen worden, der unter dem Motto „Steinbach ohne Kerb“ in einer Länge von 17 Minuten übertragen wurde.

Der Herrgott soll es richten

Dieses Szenario kannte man nicht. Der Vorstand der Kerbegesellschaft kniete vor dem Kerbetransparent, dahinter stellte sich ein Dutzend Kerbeburschen auf, flankiert von Herbert Lüdtke und Christof Reusch. Und alle prosteten sich mit Ebbler zu, damit 2021 wieder auf dem St.-Avertin-Platz gefeiert werden kann. Der Herrgott soll es richten. Für den Zusammenhalt in der Stadt, für die Bewahrung des Brauchtums hat dieses Fest eine große Bedeutung, und deshalb drücken alle die Daumen, dass sich die Fahrgeschäfte 2021 wieder bewegen, dass wieder Zuckerwatte und Würstchen in der neuen Mitte angeboten werden. Organisatorisch kann nichts schiefgehen, denn die „Burschen“ sind seit 2016 Veranstalter. Und der Refrain in der Kerbehymne: „Wenn es losgeht, sind wir da“, ist kein leeres Versprechen.

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