Ultraläufer Florian Gossenauer: 100 Kilometer zurück ins Leben

Gemeinsam sind sie ein unschlagbares Team: Mit „Supermann“ Florian Gossenauer (Mitte) freuten sich über den erfolgreichen Ultralauf Ehefrau Heike (rechts), Bundestrainerin Sibylle Gottschalk (links) und die beiden Söhne Samuel und Levi. Foto: Scholl

Neuenhain (Sc) - Es ist eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben kann. Der Neuenhainer Triathlet und frischgebackene Ultraläufer Florian Gossenauer schaffte Anfang Juni etwas, was den meisten unter uns als fast unmöglich erscheinen mag. Er startete zu einem Ultralauf, der ihn auf einer Strecke von 100 Kilometern von seinem Startpunkt in Neuenhain über den Feldberg und auf der Weiltalmarathon-Strecke bis nach Weilburg führte. Dort drehte er eine Runde auf der Schlossplatte, um sich dann kurzerhand auf den Rückweg Richtung Feldbergplateau zu machen. Startzeit für den Ultralauf war um circa 4.30 Uhr in Neuenhain, Zieleinlauf auf dem Feldberg um circa 16.30 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt lagen elf Stunden und 16 Minuten reine Laufzeit und 110.000 Schritte hinter ihm. Eine sportliche Leistung, deren Umfang wohl kaum jemand ermessen kann, verbunden mit einer mentalen Stärke, die sich Florian Gossenauer in den vergangenen Jahren neu erarbeiten musste. Die Idee, sich dieser extremen sportlichen wie auch mentalen Herausforderung zu stellen, war das Ergebnis eines langen Prozesses, der ihn aus einer tiefen Depression zurück ins Leben holte und ihm heute die Freiheit gibt, über das Erlebte und seinen Weg sprechen zu können.

Wenn Florian Gossenauer heute nicht gerade trainiert, dann ist er Ehemann, Vater zweier Kinder und kümmert sich hauptamtlich darum, dass zuhause „der Laden läuft“. Wer ihm begegnet, trifft einen netten, freundlichen und ausgeglichenen Mann. Groß, schlank und sportlich. Dieses ist sein neues Leben, in das er sich mit Hilfe des Laufsports zurückgekämpft hat. Am Anfang seiner Laufkarriere stand jedoch der Blick in den Abgrund. Eine tiefe Depression und eine damit verbundene posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), die durch seine langjährigen Erlebnisse als Polizeibeamter ausgelöst wurde. Der Freitod eines Kollegen traf ihn schwer, sodass er vom Polizeidienst freigestellt wurde und sich in medizinische Behandlung begab. Nach 16 Jahren aktiven Polizeidienstes quittierte er den Dienst aus gesundheitlichen Gründen.

Im Rahmen seiner darauffolgenden medizinischen Behandlung traf er seine heutige Trainerin Sibylle Gottschalk. Aus dieser sportlichen Freundschaft entwickelte sich über die Jahre ein erfolgreiches Trainingsteam, dem unter anderem die Teilnahme am Frankfurt Marathon (2013) und am Ironman Rügen (2017) über die halbe Distanz folgte. Mittlerweile ist Florian Gossenauer 26 Marathons gelaufen und absolvierte 2019 den Ironman Frankfurt über die volle Distanz.

Nun hieß es, ein neues Ziel ins Auge zu fassen, was sich mit dem jährlichen Ultralauf in Biel (Schweiz) anbot. Obwohl dieser Lauf coronabedingt abgesagt wurde, entschloss sich Gossenauer, die Strecke zu laufen. „Ich habe eine Nacht darüber geschlafen und dann beschlossen, die 100 Kilometer eben ‚irgendwo hier‘ zu laufen“, lautet sein Kommentar auf die Frage, wie er darauf kam, über den Feldberg bis nach Weilburg zu laufen. Eine Strecke, bei der fast 2.500 Höhenmeter zu überwinden sind. Gemeinsam mit seiner Trainerin Sibylle Gottschalk arbeitete er die Strecke selbst aus, anhand derer der persönliche Trainingsplan erstellt wurde. Dazu kam, dass alles „drum herum“ in Eigenregie organisiert werden musste. Sein Freund Timo Vogt begleitete ihn auf dem gesamten Lauf mit dem Fahrrad, um bei Schwierigkeiten rechtzeitig zur Stelle sein zu können und versorgte während des gesamten Laufes die sozialen Medien mit Updates, über die sich auch Freunde und die Familie auf dem Laufenden hielten.

Das Wetter meinte es am Samstag nicht wirklich gut. Trotzdem ließ sich Gossenauer nicht von seinem Vorhaben abbringen und startete pünktlich in Neuenhain. Was seine Gedanken und Gefühle bei dem 100-Kilometer-Lauf betraf, so berichtete er, dass er die erste „mentale Hürde“ nach 20 Kilometern Laufstrecke meistern musst, als die Erkenntnis reifte, dass dies nun kein Training mehr war, sondern Ernst. Er beschreibt diese Phase als die spannendste des ganzen Laufes, denn Puls und Gedankenwelt verselbständigten sich und „normalisierten“ sich erst wieder, als in Weilrod ein Lauffreund zu ihm stieß und er sich unterhalten konnte.

Michael sollte erfreulicherweise nicht der einzige Freund bleiben, der Florian auf seinen 100 Kilometern Weg spontan begleitete. Unterhalb des Schlossplatzes in Weilburg angekommen, wechselte das Team und anstelle von Michael begleitete ihn nun Jerry auf einem Teil des Rückwegs. Nun war mehr als die halbe Strecke geschafft. „Die nächsten 10 Kilometer liefen noch ganz gut, dann setzten Müdigkeit und Erschöpfung ein“, beschreibt Florian Gossenauer seinen Rückweg zum Feldberg.

Die 60-Kilometer-Marke erwies sich als große Hürde, weil er noch nie weiter am Stück gelaufen war. Dem Kopf zu sagen „ab hier ist nichts anders – die 60 Kilometer-Marke bedeutet nichts“, war eine sehr große mentale Herausforderung. Neue Ziele mussten gesetzt werden, um die Motivation aufrecht zu erhalten. Eines davon war die Eisdiele auf dem Marktplatz von Weilmünster, wo der Inhaber die ungewöhnliche Bestellung (Limo und Eis) mit einem Lachen quittierte. Darüber hinaus machten die Läufer des Öfteren einen kleinen Halt zum Trinken oder Schuhe wechseln. Die Stopps waren jedoch nie länger als neun Minuten, damit der Körper keine ausgedehnte „Ruhepause“ forderte. Insgesamt betrachtet, war der zweite Teil des Laufs schwieriger, da Ermüdung einsetzte und Gossenauer sich ständig mit etwas beschäftigen musste, damit der Körper nicht von Natur aus mit Schmerzen reagierte. Der Lauf wurde mental und körperlich immer „härter“, wobei der eine oder andere Energydrink, gepaart mit Salzbrezeln, wenigstens ein bisschen half. Auf dem allerletzten Teil der Strecke wurde es besonders schwer – seine Wahrnehmung begann, sich zu verändern, sodass selbst vorbeifahrende Autos nervten. Doch Florian Gossenauer hielt durch und wurde dafür von seiner Familie auf dem Feldberg mit einem Sieger-Lorbeerkranz erwartet.

„Dieser Lauf war das Schönste, was ich je gemacht habe“, waren seine Worte, als er nach seinem ersten Sieger-Eindruck gefragt wurde. Dank der fast unbegrenzten Unterstützung seiner Familie und seines Teams war es ihm gelungen, sich dieser enormen Herausforderung zu stellen und diese auch erfolgreich zu meistern. „Dieser Lauf hat mir mehr gebracht, als ich erhofft hatte und er hat mir gezeigt, dass es immer einen Weg nach vorne gibt.“ Ein neues Ziel hat er auch schon: Er möchte den Pilgerweg nach Santiago de Compostela in Angriff nehmen – laufend selbstverständlich! Seine Familie wird ihn begleiten, wenn auch nur in Etappen, mit dem Auto oder dem Flugzeug – aber sie werden das schaffen – zusammen!



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