Kelkheim (nd) - Am vergangenen Freitag trafen sich der Publizist Michel Friedman und der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein zu einer Diskussionsrunde im Plenarsaal des Kelkheimer Rathauses. Die Veranstaltung „Und jetzt?“ fand im Rahmen eines „Wochenendes der Reflexion und der Kultur anlässlich des Holocaust-Gedenktags“ statt. Das Interesse der Kelkheimer Bürgerinnen und Bürger war groß und so füllten 250 bis 300 Personen den Saal. Die Moderation übernahm die Journalistin Pola Nathusius in Vertretung von Esther Schapira.
Die Diskussionspartner
Michel Friedman wurde im Februar 1956 in Paris geboren. Der deutsch-französische Jurist, Talkmaster, Philosoph und Publizist gehörte für einen Zeitraum von zwei Jahren dem Bundesvorstand der CDU an. Außerdem war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland und Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Seit dem Jahr 2016 ist Friedman Honorarprofessor für Immobilien- und Medienrecht an der University of Applied Sciences in Frankfurt am Main.
Felix Klein wurde im Januar 1968 in Darmstadt geboren. Der deutsche Jurist und Diplomat war Sonderbeauftragter für Beziehungen zu jüdischen Organisationen und Antisemitismusfragen im Auswärtigen Amt. Seit dem Jahr 2018 ist er Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus.
Umgang mit der Gegenwart
Begrüßt wurden die Besucher durch den Kelkheimer Bürgermeister Albrecht Kündiger (UKW). Generell waren viele Vertreter der Stadt Kelkheim gekommen, um der Veranstaltung beizuwohnen. „Als Bürgermeister dieser Stadt bin ich sehr stolz auf die Veranstaltung und stolz darauf, dass sie schon viele Tage ausgebucht ist - wenn das kein Zeichen ist“, so Kündiger.
Im Gespräch ging es um drei zentrale Fragen. Wie kann, wie muss man den derzeit grassierenden Antisemitismus einordnen? Was kann man ihm entgegnen, wie kann man ihn bekämpfen? Wie gestaltet sich jüdisches Leben, jüdischer Alltag in Deutschland heute?
„Ich habe mich immer als linksliberal gesehen und habe das Gefühl, meine politische Heimat verloren zu haben“, bezog sich Pola Nathusius auf die aktuellen Geschehnisse im Bundestag. Er habe eine Partei nie als Heimat gesehen, das Thema sei für ihn wenig emotional, antwortete Friedman. „Stellen Sie sich vor, ich wäre nicht zurückgetreten – wie könnte man mich noch ernst nehmen?“ Das sagte Friedman zu seinem Austritt aus der CDU, den er nur wenige Stunden zuvor erklärt hatte. Felix Klein bekräftigte, dass man mit der Situation umgehen müsse, auch auf sein Thema, den Antisemitismus, hätten die aktuellen Ereignisse Auswirkungen.
Wie Friedman und Klein es schaffen würden, nicht deprimiert zu sein, wollte Nathusius wissen. „Wir sind nach wie vor nicht bereit, Einwanderungsland zu sein – in anderen Ländern wird man netter empfangen“, so Friedman. Allerdings sei er nicht deprimiert, er wolle schließlich mündige Bürger. Wichtig sei eine gute Bildung. Hasserfüllte Menschen würden ihn motivieren und nicht deprimieren, resümierte Friedman. Auch Klein bestätigte, dass er rational mit Entscheidungen umgehen wolle, denn Wut sei immer ein schlechter Ratgeber. Natürlich sei Bildung ein Schlüssel. Man solle sich nicht nur auf die Politik verlassen, Vereine und die Kirche seien ebenso in der Pflicht. Vierzig Prozent der Jugendlichen wüssten nicht einmal, was Auschwitz ist und genauso viele Personen wüssten nicht, wie viele Menschen in den Konzentrationslagern getötet wurden, konstatierte Friedman. „Wir müssen Jugendlichen die Möglichkeit geben zu verstehen, was der Anfangspunkt war“, ergänzte er.
Nahostkonflikt nährt Antisemitismus
Sie sei bezüglich der Demonstrationen gegen Rechts im Zwiespalt, dort gäbe es oft „Free Palestine“-Rufe und Zusammenarbeiten mit antisemitischen Organisationen, bemängelte Pola Nathusius. Felix Klein erklärte, dass es eine paradoxe Situation sei. In Deutschland bekomme man fast nur Bilder aus Gaza zu sehen, nicht aus Israel. „Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind so viele Juden ermordet worden – die Folge daraus ist, dass der Antisemitismus in Deutschland gestiegen ist und zwar bevor Israel überhaupt reagiert hat“, so Klein. Selbst Frauenorganisationen hätten geschwiegen. Friedman erklärte, dass er ein Problem mit der Hamas hätte und nicht mit dem einzelnen Palästinenser. Ein Terrorist bleibe ein Terrorist. „Unabhängig des Jüdischseins bin ich mit der rechtsextremen jüdischen Regierung nicht einverstanden – wie viele Israelis, die jeden Tag demonstrieren gehen“, stellte Friedman klar. Auch werde immer von jüdischen Siedlern gesprochen, es seien aber keine jüdischen Siedler, sondern israelische. „Das ist ein Unterschied“, unterstrich Friedman. Er sei noch nie in Gaza gewesen, werde aber immer wieder gefragt „Was machen Sie denn in Gaza?“
Als Jude sicher in Deutschland?
Ob man gefährdet sei, wenn man Jude ist, wollte Nathusius wissen. Michel Friedman antwortete, dass Felix Klein ihn gewarnt hätte. Er könne nicht hingehen, wohin er will, und sichtbar jüdisch zu sein sei gefährlich. „Dagegen muss man sich wehren“, rief Friedman. Was mache es mit jüdischen Kindern, dass ihre Schulen bewacht werden müssten? Nach dem Überfall auf Israel würden sich Familien fragen, ob sie einen Davidsstern tragen. Friedmans Kinder hätten diesen vorher selbstverständlich getragen, denn sie hätten auf das Versprechen nach dem Zweiten Weltkrieg vertraut. Viele jüdische Menschen hätten gedacht, dass sie Deutsche geworden wären, dass sie selbstverständlich geworden seien. „Diese Menschen sind heute sehr einsam“, erklärte Friedman.
Klein erklärte, dass es in den letzten Jahren systemisch gelungen sei, auf den Antisemitismus zu reagieren. Die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft wurde bezüglich des Antisemitismus geschärft und auch zur Lehrer- und Polizeiausbildung gehöre es dazu. Besuche im Konzentrationslagern müssten Pflicht für Schulklassen werden. „Ich bin selbst nicht jüdisch, aber wir müssen jüdisches Leben in unserer Gesellschaft sichtbar machen, denn es ist viel schwieriger, etwas zu hassen, das selbstverständlich ist“, so Klein. Ohne den Überfall der Hamas auf Israel wäre der Antisemitismus in Deutschland gesunken. Man könne Faktoren wie den Nahostkonflikt von außen aber nicht beeinflussen.
Friedman entgegnete, dass es kein Nahost-Problem sei, wenn jüdische Studenten an Universitäten gejagt würden, sondern ein Problem der Bundesrepublik Deutschland. Wenn der Triggerpunkt da war, zeige sich, wie viel Antisemitismus es gebe. „Auch wenn es schlummert, diese große Gruppe gibt es und die extreme Linke hat Terroristen zu Freiheitskämpfern gemacht“, ergänzte er. In den letzten sieben Jahren sei das Leben für Juden in Deutschland nicht besser geworden. Klein erwiderte, dass es kein Rezept gegen Antisemitismus gebe, es mache ihn betroffen, wenn jüdische Menschen sagen, es wäre nicht besser, sondern schlechter geworden. „In einem Land, in dem Juden nicht leben möchten, möchte ich auch nicht leben – ich kämpfe dafür, dass Menschen so denken“, schloss Felix Klein. Friedman erklärte, dass die Deutschen zwar den Antisemitismus nicht erfunden hätten, dafür aber Auschwitz. Seit Jahrhunderten werde Antisemitismus mit der These begründet, dass Juden Jesus getötet hätten. „Glaubt jemand, dass dieses kulturelle Gedächtnis in 50 bis 100 Jahren ausgelöscht wird?“ fragte Friedman.
Ob es überhaupt einen Grund zur Hoffnung gebe, wollte Nathusius wissen. „Ich bin ein verzweifelter Optimist – ich kann als Mensch nur blühen, wenn ich Teil der Gesellschaft bin und keine Minderheit“, entgegnete Friedman. Womit sie ihre Zuversicht speise, fragte er die Moderatorin. „Ich weigere mich, dass es schlechter wird – nicht nur für mich, auch für meine jüdischen Freunde“, so Pola Nathusius.