Vor dem Tumor weglaufen: Bewegung in den Alltag integrieren

Königstein (hhf) – „Persönlichen Gewinn aus dem Thema ziehen“, das sei diesmal auch möglich, versprach Moderator Professor Dr. Diether Döring in der Einleitung zum sechsten Vortrag im Königsteiner Forum unter dem Dachthema „Gesundes Leben – die Perspektiven“. Tatsächlich sollte es nach einigen grundlegenden Referaten nun ans individuelle Eingemachte gehen, Titel: „Wunderpille Bewegung – Die Verantwortung des Einzelnen/ Die Chancen des Einzelnen für seine Gesundheit zu sorgen“.

Rolltreppen, Aufzüge, elektrische Rollläden, nach Diether Dörings Beobachtungen ist „der Westen eher bewegungsarm“, was letztendlich zum „Auslöser für gesundheitliche Malaisen“ führt. Zum Feldzug eben dagegen blies der Königsteiner Professor Dr. med. Dr. phil. Winfried E. Banzer, Lehrstuhlinhaber am Institut für Sportmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Prodekan des Fachbereichs Psychologie und Sportwissenschaften. Als Facharzt für Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen Sportmedizin, Chirotherapie und Akupunktur mit einer Weiterqualifizierung in Ernährungsmedizin umfasst seine Forschungstätigkeit eine ähnlich große Bandbreite wie seine Mitgliedschaften in namhaften nationalen und internationalen Organisationen, unter anderem ist er im Beirat für Sportentwicklung des Deutschen Olympischen Sportbundes und Mitglied der EU-Plattform on Diet, Physical Activity and Health.

„Wir stehen kurz vor der Verabschiedung eines Präventionsgesetzes“, warnte der Fachmann aufgrund seiner Nähe zur Politik, daher sei sein Thema auch bewusst dialektisch formuliert. Einerseits stelle sich zwar die Frage, wie weit der Staat in die persönliche Autonomie eingreifen dürfe, andererseits haben sich einschneidende Regelungen zur Prävention wie die Gurtpflicht oder das Tabakverbot bereits nachweislich positiv auf die Volksgesundheit ausgewirkt. Auch gebe es bereits eine Vielzahl von Empfehlungen zur Krankheitsprävention, vielleicht die wichtigste laute „Bewegung in den Alltag integrieren“. Mit der Umsetzung ist es aber oft nicht so einfach, bedenkt man zum Beispiel die Schwierigkeiten von Radfahrern, denen die Stadtplaner noch immer nicht genügend sicheren Verkehrsraum zur Verfügung stellen. Erst recht kann der Jugend der Schulweg auf dem Drahtesel nicht uneingeschränkt empfohlen werden, solange Rad- und Fußwege vor dem Zielort von motorisierten Eltern in gefährlichster Weise missbraucht werden.

Grundsätzlich hält Banzer es aber mit Moshe Feldenkrais, der formulierte „Leben ist Bewegung und ohne Bewegung findet Leben nicht statt“, zur Verdeutlichung wagte er den Vergleich mit Steinzeitjägern im Taunus, in deren Rolle den modernen Einwohnern wohl eine längere Hungersnot drohen würde. Dabei ist der Mensch an sich gar kein Athlet, nicht einmal ein Sprinter, für Gehstrecken von 15 Kilometer am Tag ausgelegt. Ein bewusstes leichtes Ganzkörpertraining hilft also schon gegen den Bewegungsmangel, eine chronische, nicht übertragbare Krankheit, der die Weltgesundheitsorganisation WHO ein Gesundheitsrisiko wie dem Rauchen zuschreibt, an der auch immer mehr Menschen weltweit vorzeitig sterben. Übergewicht, Adipositas, machte der Referent gar als Pandemie aus, dabei lenkte er angesichts weltweit betroffener 40 Millionen Kinder den Blick auf das „Heranzüchten einer adipösen Generation“. Sitzt die Jugend besonders gerne an Computern und Spielekonsolen, so machen sich auch die Erwachsenen den Alltag mit Auto, Fernbedienungen und Gartengeräten bequem. Solange er nicht schläft, verbringt der durchschnittliche Mitteleuropäer 60 bis 70 Prozent seiner Zeit sedentär (sitzend/ruhend), in 20 bis 30 Prozent widmet er sich leichter Aktivität und nur im einstelligen Bereich gerät er – vielleicht – ins Schwitzen. Die viele Ruhe aber fördert vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes bis zu einer Erhöhung der Gesamtsterblichkeit, denn der Fettstoffwechsel läuft ohne Bewegung nicht optimal. Gut zu belegen ist dies anhand einer Studie, die auf Beobachtungen der Old order Amish fußt, die aus Glaubensgründen viele moderne Hilfsmittel ablehnen und sich daher reichlich bewegen, im Schnitt etwa 40 Stunden pro Woche.

Zur persönlichen Gesundheitssteigerung ließ der Referent nun seine Zuhörerschaft einmal aufstehen, dabei betonend, dass körperliche Fitness sich auch positiv auf die geistige Leistungsfähigkeit auswirkt. Angenehm war, zu erfahren, dass die Bewegung gegen Übergewicht besser wirkt als Einschränkung beim Essen, der Jo-Jo-Effekt nach Hungerkuren ist hinlänglich bekannt und das Halten des aktuellen (Über-)Gewichts in vielen Fällen schon Aufgabe genug. Wer allerdings schon nach einem Stockwerk Treppensteigen außer Atem gerät, hat ein ernsthaftes Problem, das sich im Alter weiter vergrößert. Dabei geht es nicht nur um ein langes Leben, was durch einige Reserven in den großen Muskelgruppen bis hin zur Widerstandskraft gegen Krebs begünstigt wird, vielmehr ist auch ein bestimmtes Maß an körperlicher Leistungsfähigkeit nötig, um sich die Selbstständigkeit im Alltag zu erhalten.

Wie sehr die kleinen Sünden des täglichen Lebens zu Buche schlagen können, legte schon 1953 eine britische Studie dar, die Busfahrer und Schaffner als sitzende und flitzende Kollegen in Bezug auf die Anfälligkeit für Koronarerkrankungen verglich – erwartungsgemäß lebten die Schaffner deutlich gesünder und überlebten sogar Herzinfarkte um 20 Prozent häufiger als die Fahrer. Ebenfalls einleuchtend dürfte sein, dass Rückenschmerzen den Fettleibigen länger und häufiger plagen als die dürre Bohnenstange, nicht überraschend auch die Information, dass der Kampf gegen Altersdiabetes, an der heute schon Kinder leiden, für die Gesellschaft richtig teuer ist. Selten gehört dagegen eine aktuelle Studienreihe, die nahelegt, dass Bewegung auch positive Wirkungen gegenüber Krebs zeigt, sogar Palliativpatienten können ihre Lebensqualität durch moderate Bewegungstherapie verbessern, und sei es nur in Hinsicht auf Nebenwirkungen oder Sekundärerkrankungen, weshalb die Universität Frankfurt das Programm „Sport in der Onkologie“ ins Leben gerufen hat. Bewegung ist also ein universelles Heilmittel, beeinflusst sogar die mentale Gesundheit, macht Stress erträglicher und schiebt Demenz heraus – Voraussetzung ist aber das richtige Verhalten im Alltag. „Der Geist schafft sich den Körper“ erkannte schon Friedrich Schiller, der im „Brotberuf“ immerhin als Arzt tätig war, moderne Kollegen nehmen der lieben Gewohnheit gar jede Grundlage: Das Gehirn ist bis ins hohe Alter von etwa 90 Jahren in der Lage, sich auf Verhaltensänderungen einzustellen, keine Ausrede also für bewegungsmuffelige Senioren. Sie befinden sich ohnehin im direkten Einzugsbereich eines Teufelskreises, der darin besteht, dass eingeschränkter Gebrauch von körperlichen Fähigkeiten diese weiter verkümmern lässt: „Alter ist oft eine Folge von Nichtgebrauch!“

Forderte Winfried Banzer also mehr Aktivität im Ruhestand, so zeigte er sich mit den Übergewichtigen eher nachsichtig, zumal bis zu 20 Prozent davon völlig beschwerdefrei leben. Bewegung verordnete er dieser Gewichtsklasse aber auch: „Wenn schon fett, dann fit!“ Hinsichtlich eines vermutlichen Zusammenhangs von körperlicher Aktivität und Gesamtmortalität von bis zu 30 Prozent empfiehlt der Facharzt aber jedem eine Dosis von drei Stunden richtiger körperlicher Aktivität pro Woche, Einheiten ab zehn Minuten dürfen addiert werden. „Auspowern ist nicht notwendig“, wichtig ist nur die Regelmäßigkeit, dabei sollte man Ausdauer- und Krafttraining langsam steigern. Auch ein Sportstudio ist nicht nötig, nutzt man nur regelmäßig das Fitnessgerät Treppenhaus und hält sich bei heimischen Übungen an die Regel „Keep it simple and stupid“. Einzig den inneren Schweinehund sollte man sich nicht zum Partner wählen, sonst schafft Sport eher neue Freunde und Freude. Letztendlich zählt aber jedes kleinste Bisschen Bewegung auch jenseits des Prädikats Sport: „Gehen Sie, so oft es geht“, denn „Gehen ist eine segensreiche Tätigkeit.“



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