Bei Willemsen wird der Bundestag zum „Bau der nutzlosen Rede“

Roger Willemsen, flankiert von Annette Schiedeck und Jens-Uwe Kraus, geht mit dem Bundestag hart ins Gericht.

Foto: Sura

Kronberg (aks) – Roger Willemsen sitzt kaum vor dem Mikro, da ist der Schnellredner schon in die Zeilen seines Buchs vertieft: „Das hohe Haus“. Im eisernen Selbstversuch saß er ein Jahr lang als Zuhörer im deutschen Bundestag, in dem die Stimme des Volkes schon lange verhallt ist. Der promovierte Moderator, Redakteur, Autor und Jazzliebhaber stellt die Frage, um die es heute Abend geht: Wie sehr repräsentiert uns das Parlament? Seine Antwort ist vernichtend. Er verzichtet auf Interpretationen, zitiert wortgetreu Kanzelgefechte und überlässt dem Publikum selbst ein Urteil. Das ist recht amüsant, bitterböse und atemberaubend schnell gesprochen – zu seiner Linken sitzt die Schauspielerin Annette Schiedeck, die vor allem Angela Merkel lakonisch zu einer Stimme verhilft und rechts von ihm der Hörfunk Moderator Jens-Uwe Kraus, der die männlichen Sprecher zitiert.

Im Parlament ist das Volk abwesend. Hier, im hohen Haus, verteidigt jeder Abgeordnete seine Interessen oder die seiner Partei, hier geht es um alles und oft genug um nichts, hier wird beleidigt und gekungelt, hier macht man Eindruck oder hinterlässt nur gähnende Leere: Im Bundestag in Berlin wird angeblich das Volk als Souverän vertreten, doch zu oft wehen nur Wortfetzen durch den Raum und Scheingefechte täuschen Engagement vor: „virtuelle Zwecklosigkeit im interesselosen Raum“. „Was einst barbusig auf den Barrikaden begann, endet heute hier mit Krawatte.“ Die Bürokraten haben gewonnen, das Volk bleibt draußen, beziehungsweise es muss mit den Plätzen oben auf der Tribüne vorlieb nehmen. Es darf von dort der hohen Politik lauschen, aber hat gefälligst den Mund zu halten. Jeder Störer wird des Saales verwiesen, darüber wacht eine eiserne Kathrin Göring-Eckart, die selbst mal als Grüne zu den Störern zählte.

Den Bundestag bezeichnet Willemsen als „Bau der nutzlosen Rede“, als „Cloaca maxima“. Am Pult steht, wer delegiert ist und sich berufen fühlt. Kompetenz in der Sache ist da eher die Ausnahme. Aigner bezeichnet er als „wurst-affin“, „der mit der Eisenbahnerkelle ist der Verkehrsminister, die Wirtschafts- und Finanzminister haben nichts“ – und geben nichts. Volker Kauder wird des Öfteren zitiert und von Willemsen kommentiert: „Mief, Mief, Mief“. Künast bemerkt zu Bauchentscheidungen selbstbewusst, sie habe gar keinen Bauch, aber jede Menge Ahnung. Rösler strahlt „hoch dosierten Optimismus“ aus. Sigmar Gabriel spielt Altmaier den schwarzen Peter zu. Schäuble „orakelt in badischer Färbung“. Der listige Gysi feixt: „Was soll das alles?“ Röschen von der Leyen schwingt im korrekten Hosenanzug die Arme, grinst und wirkt „sympathisch deplatziert“: „Das mögen die Menschen“, auch dieser Satz passt immer. Ausgerechnet der Kultusminister Naumann erfasst den Geist der Stunde nicht. Egal ob es um NSU, NSA, Lampedusa oder Afghanistan geht, jeder Politiker bekommt sein Fett weg und vor allem einen rhetorischen Stil attestiert, der an Plumpheit und Banalität nicht zu überbieten ist. „Eine lebendige Debattenkultur wird durch Einigkeitspheromone begraben“. Reden, denen keiner mehr zuhört: „Hört denn die Talkshow nie auf ?“ Auch das Wort „Blödmann“ geht von der Präsidentin ungerügt durch. Bei Beleidigungen wie „Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Trost“ zuckt schon lange keiner mehr. Grundsätzlich gehe es um die Durchsetzung von Interessen, die nicht die des Volks sind.

Selbstlob findet hier fruchtbaren, ja dankbaren Boden. Zitate wie „Wir sind stolz auf diese Regierung“, bedeuten „Ich bin zufrieden mit mir“. So ernährt sich der Apparat der Selbstgerechtigkeit von selbst. Oben auf dem Rang, so berichtet Willemsen, sitzen Schüler, die einen Zettel herumreichen auf dem steht: „Hanebüchene Fehleinschätzung!“, da muss er grinsen.

Die Tage sind lang im Parlament. Ab 21 Uhr lässt das Tempo nach, die Diskussionskultur verliert weiter an Niveau und um 22.43 Uhr geht es immer noch darum „Was wir brauchen“.

Die Antworten sind Gott sei Dank einfach: Wir brauchen gutes Essen. Wir brauchen einen soliden Haushalt, aktive Wirtschaftspolitik und Investitionen, und last but not least brauchen wir einen Masterplan. Außerdem wären da noch Mittel für die Bildung, Mindeststandards. „Wir brauchen eine neue Regierung“, denkt sich Willemsen resigniert und fühlt die Müdigkeit in den Knochen: „Ich brauche Schlaf!“ Hart sind die Sitze auf der Tribüne, sein investigatives Interesse – sein Sensationsjournalismus - hält das aus.

Die Anwesenheit von Merkel, Schäuble, Steinbrück und Wagenknecht verleihen dem hohen Haus jedes Mal besonderen Glanz. Merkels Deklarationsstil vermeidet treffende Metaphern, sie setzt lieber auf Allgemeinplätze, die gar nicht falsch sein können: „Die Gegebenheiten sind unterschiedlich und man muss an alles denken!“ Richtig! „Der linguistische Sprachakt wird bezeichnet, aber nicht durchgeführt“, so fasst es Willemsen in seinem brillanten Sprachwitz zusammen. „Sprache hat bei Merkel keine Heimat, ihre Rede ist frei von Ideen“. Herauskommen „politische Anästhesien“ – die Redner geben sich zwar Mühe, doch die Zuhörer erschlaffen und denken ans Mittagessen in der Kantine. Das ist Routine: Steinbrück redet und redet, schießt Giftpfeile in Merkels Richtung, doch trifft er nicht, weil sie abwesend aufs Handy – das abhörsichere – schaut. „Zwiesprache mit einer Abwesenden“, so Willemsen bissig. Jürgen Trittin kann dem einen oder anderen Vortrag nicht folgen und fragt nach den Untertiteln. Gewohnt Kerniges von Brüderle: „Packen wir’s an!“ Sahra Wagenknecht kämpft wortreich und mit hochgezogenen Brauen für die Linke. Dazwischen ruft Goldmann „Wie gehen wir miteinander um?“. Würdelose Kraftmeierei? Merkel geht.

Willemsen bezieht klar Position nach seiner realen Anwesenheit im deutschen Parlament:„Alles Heuchelei, Schönfärberei in diesen heiligen Hallen der Demokratie. Die Agora als Mutter des Hickhacks...“ Wieder ist ein Tag zu Ende, es ist 22 Uhr, „spät ist es geworden, der Hintern schmerzt, der Rücken auch. Der Tag war lang, die Limousinen warten“. Es wird leiser! Langweilig? „Finde ich nicht“. Willemsen rät den Zuhörern: Nicht nur kochen und Tatort schauen! Das Kostbarste ist des Volkes Wille. Auch wenn vielleicht manche Träume ausgeträumt sind, sollten wir nicht resigniert dem Stillstand verfallen, sondern uns ernsthaft überlegen, welche Volksvertreter dort im hohen Haus unser Wort ergreifen – und wählen gehen!



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